Hamburg
Rede von Katrin McClean

Liebe Passanten, liebe Menschen hier auf den Straßen von Hamburg.

Sicher fragen sich jetzt manche von Ihnen, Herrgott nochmal, müssen die ausgerechnet jetzt den ganzen Verkehr blockieren? Es ist kurz vor Weihnachten, und ich muss noch so viel besorgen und machen und tun.

Ich bitte Sie einfach, halten Sie einen Moment an, und erinnern Sie sich daran, dass der Frieden, in dem wir leben, keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

Eigentlich ist es gut und richtig, dass es uns gut geht, dass aus unseren Wasserhähnen trinkbares Wasser und aus unseren Steckdosen Strom kommt. Dass der Himmel nicht dröhnt von Bombenflugzeugen, dass wir keine Angst vor Hunger, Durst, Kälte oder Artilleriefeuer haben müssen.

Doch, während wir uns in den nächsten Tagen mit Geschenken überhäufen, gibt es auf dieser Welt Eltern, die nicht einmal wissen, ob sie ihre Kinder am Weihnachtstag satt bekommen. Ob sie die nächste Nacht überhaupt überleben werden. Und das kann uns nicht egal sein.

Denn die Politik unseres Landes trägt eine Mitschuld an diesem Leid. Als drittgrößter Rüstungsexporteur beliefern wir über Umwege Terrorgruppen und militante Diktaturen mit Waffen. Als NATO-Mitglied und treuer Bündnispartner der USA unterstützen wir geostrategische Kriege, die heuchlerisch Friedensmissionen genannt werden.

Unser Land ist Gastgeber für das logistische Zentrum eines perfiden Drohnenkrieges. Unsere Medien schweigen sich über zivile Opferzahlen aus und veröffentlichen sie immer erst dann, wenn wieder einmal ein Krieg vorbei ist. In den letzten zehn Jahren sind über eine Millionen unschuldige Menschen im sogenannten Anti-Terror-Kampf getötet worden. Und die Zahl der Terroristen hat sich im Laufe dieses Anti-Terror-Krieges vervielfacht. Es geht nicht um Frieden und Demokratie. Es geht um Waffengeschäfte und um die Kontrolle über Ressourcen. Die größten Flüchtlingsströme kommen aus den Krisengebieten, die unsere Regierung mit verursacht hat. Und anstatt ihrer Pflicht nachzukommen, und ihnen Schutz zu gewähren, bauen die NATO-Staaten eine Mauer um Europa, und erklären Menschen, die den Tod riskieren, um ein menschenwürdiges Leben zu finden, zu Kriminellen. Wir stehen hier in der Überzeugung: Jeder Mensch, egal, wo er geboren ist, hat ein menschenwürdiges Leben verdient. Und deshalb brauchen wir Frieden.

Und wir halten es für äußerst gefährlich, dass der Krieg immer näher kommt.

In diesen Tagen werden hier in Europa wehrlose Menschen, Frauen und Kinder Opfer von Luftangriffen ihrer eigenen Regierung. Anstatt die Kiewer Regierung dafür zu verurteilen, unterstützen unsere Politiker eine Oligarchenkaste, die sich ganz offen mit Nazi-Parolen schmückt. Das ist keine Verteidigung demokratischer Werte, hier geht es um eiskalte geostrategische Machtpolitik.

Wir können nicht länger zusehen, wie unsere Politiker, unterstützt von unseren Medien, das Feindbild Russland wieder aufbauen, als hätten sie nichts, aber auch gar nichts aus zwei katastrophalen Weltkriegen mit Aber-Millionen Toten gelernt. Und deshalb, liebe Passanten, stehen wir hier und fordern: Wir brauchen endlich Frieden. Für uns in Europa und für alle Menschen auf der Welt. Wir brauchen eine Politik der Vernunft, die Ja zu Verhandlungen sagt und Nein zu militärischen Konfliktlösungen.

Aber auch wir können etwas tun. Krieg und Unmenschlichkeit entstehen an vielen Orten und bei vielen Gelegenheiten, auch hier in unserem Alltag.

Wir können „Nein“ sagen. So wie der junge Hamburger Dichter Wolfgang Borchert, der mit 26 Jahren an den Folgen seiner Kriegsverletzungen starb, uns gemahnt hat.

Ich habe versucht, seine Mahnung an die heutige Zeit anzupassen, wobei ich einige Zitate dieses großen Dichters übernommen habe.

Und ich habe dieses Wir eben ganz ernst gemeint und bitte jetzt alle, die hier sind, gemeinsam mit mir „Nein“ zu sagen.

Du Mädchen im Callcenter, du, Frau im Büro,
wenn sie dir heute erzählen, dass die Russen ab jetzt deine Feinde sind,
sag NEIN

Du Mann in der Bank oder in der Versicherungsgesellschaft,
wenn sie dir sagen, dass es eine große Leistung ist,
Geld zu verbrennen, das andere mühsam erarbeitet haben,
sag NEIN

Du, Großstadt-Single
wenn sie dir einreden, du bist nur attraktiv, wenn du Markenklamotten trägst,
die in unwürdiger Sklavenarbeit genäht wurden,
sag NEIN

Du Mutter, du Vater
wenn sie euch heute erzählen, eure Kinder hätten nur eine Zukunft,
wenn wir Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lassen,
sagt NEIN

Du Fabrik-Arbeiter,
wenn Sie dir heute befehlen, Bombenflugzeuge zu bauen
anstatt Passagiermaschinen
sag NEIN

Du, Journalist,
wenn sie dir den Auftrag geben, Feindbilder zu verbreiten,
anstatt Fragen zu stellen,
sag NEIN

Du, junger Mann und du junge Frau,
wenn man euch heute schon wieder erzählt, dass es heldenhaft ist,
für eine gute Sache zu sterben
sagt NEIN

Denn es ist noch nie eine gute Sache in die Welt gekommen,
weil junge Menschen gestorben sind.

Du Soldat und du Soldatin,
wenn man euch befiehlt, auf eure Feinde zu schießen,
dann gibt es nur eins: sagt NEIN

Denn ihr habt keine Feinde! Und wenn ihr selbst erschossen werdet, dann nicht für eine gute Sache, sondern nur für die Machtinteressen einer grauenhaften Kaste von Egoisten, für die ihr nicht mehr wert seid als eine Fliege an der Wand.

Sagt NEIN!

Denn wenn ihr nicht nein sagt, werden Hunger und Not ihren gefräßigen Feldzug über die Kontinente fortsetzen.

Und selbst da, wo jetzt noch Frieden ist, wird vielleicht eines Tages die furchtbare Vision von Wolfgang Borchert Wirklichkeit.

Eine schlammgraue Stille wird heranwalzen, und in den lärmenden Hafenstädten werden die großen Schiffe verstummen und wie titanische Mammutkadaver träge gegen die vereinsamten Kaimauern schwanken.

Die U-Bahnen werden wie sinnlose, glasäugige Käfige blöde verbeult neben den verwirrten Stahlskeletten der Gleise liegen.

Dann wird der letzte Mensch mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge und einsam unter der giftig glühenden Sonne herumirren, einsam zwischen den un-
übersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen
betonklotzigen verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig,
klagend – und seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört
in der Steppe verrinnen.

Vielleicht könnte das eintreffen, morgen, morgen vielleicht, vielleicht heute
Nacht schon, vielleicht heute Nacht, wenn — wenn ihr nicht
NEIN sagt

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.